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Auch im Jahr 2011 stand ein Großteil der durchgeführten Experimente unter dem Motto der laufenden Doktorarbeit „Die Haustaube (Columba livia f. dom.) als ein Modell für altersabhängige Verhaltensweisen“. Die Verhaltensuntersuchungen zum Prägungsverhalten an Tauben wurden in 2011 weitergeführt. Dabei wurde die Stichprobengröße der einzelnen Untergruppen optimiert, um so eine aussagekräftige statistische Auswertung zu gewährleisten. Zusätzlich wurden neue Aspekte aufgenommen, wie die Erkennung von Partnern und der eigenen Jungtiere. Abstandsmessungen im Rahmen der sozialen Präferenz rundeten das experimentelle Bild ab. Noch nicht abgeschlossen sind Kasper-Hauser-Experimente, bei denen Jungtiere der beobachteten Rassen einzeln bei Fremdrassen aufgezogen wurden.

Wie schon im Jahresbericht des letzten Jahres beschrieben, wurden drei verschiedene Rassen untersucht: das Altorientalische Mövchen, der Texaner und die Brieftaube. Hierbei gab es zwei verschiedene Aufzuchtgruppen pro Rasse. Eine Gruppe zog ihre eigenen Jungtiere auf, diese wurden als „Reingruppe“ bezeichnet. Die andere Gruppe war eine „Mischgruppe“, in denen Elterntiere Jungtiere einer anderen Rasse aufzogen. So zogen Altorientalische Mövchen Jungtiere der Rasse Texaner auf, Texaner zogen Brieftauben auf und Brieftauben zogen Jungtiere der Rasse Altorientalisches Mövchen auf.
Des Weiteren wurden die Jungtiere aus den Rein- und Mischgruppen in zwei weitere Untergruppen aufteilt. Eine Hälfte der Jungtiere blieb in dem Schlag, in dem sie aufgezogen wurden und zwar unabhängig davon, ob es sich um einen Rein- oder Mischschlag handelte. Die andere Hälfte der Jungtiere wurde im Alter von 6 Wochen in einen anderen Schlag gesetzt. Jungtiere aus Reinschlägen wurden in die entsprechenden Mischschläge umgesetzt, so wurde z.B. ein Texaner, der von seinen leiblichen Eltern aufgezogen wurden, mit 6 Wochen in den Schlag gesetzt, in dem Altorientalische Mövchen als Elterntiere ebenfalls Texaner aufzogen. Diese umgesetzten Jungtiere sahen somit das erste Mal Altorientalische Mövchen und lebten von diesem Zeitpunkt an mit ihnen in einer Schlaggemeinschaft. Jungtiere aus Mischgruppen, hier z.B. die jungen Texaner, die von Altorientalischen Mövchen aufgezogen wurden, wurden mit 6 Wochen in den Reinschlag umgesetzt, in dem Texaner ihre eigenen Jungen aufzogen, ohne die Anwesenheit anderer. Auf diese Weise entstanden 18 verschiedene Gruppen, die es zu untersuchen galt.

Jede dieser 18 Gruppen muss für eine aussagekräftige statistische Auswertung eine Stichprobengröße von mindestens 5 Tieren aufweisen. Bei 18 Untergruppen ergibt sich dadurch eine Tieranzahl von 90 Tauben. Je größer jedoch eine Stichproben ist, desto mehr nähert sich das Ergebnis der Experimente der Wirklichkeit an. Vor diesem Hintergrund wurde die Stichprobengröße ausgeweitet. Insgesamt wurden auf diese Weise 151 Tauben untersucht, wobei jede Taube 12 bis 15-mal für je 15 Minuten beobachtet wurde, vom Tag des Schlupf an bis hin zum Alter von 6 Monaten, als die Tiere geschlechtsreif waren.
Auch der Gedanke der Lateralisation, die Spezialisierung beider Gehirnhälften auf verschiedene Schwerpunkte, spielte in der Studie eine entscheidende Rolle. Solch eine Spezialisierung finden wir im Sehen bei Vögeln. Die mit dem linken Auge gesehenen Informationen werden fast vollständig in der rechten Gehirnhälfte, während Informationen, die mit dem rechten Auge gesehen werden, in der linken Gehirnhälfte verarbeitet werden (Chiasma opticum). Anders als bei uns Menschen sind die beiden Gehirnhälften nur eingeschränkt in der Lage untereinander zu kommunizieren und auf die Informationen der jeweils anderen Gehirnhälfte zuzugreifen. Dabei stellte sich vor allem die Frage, nehmen junge Tauben ihre Eltern mit dem linken oder rechten Auge unterschiedlich wahr? Sind sie in der Lage, sowohl mit dem einen als auch mit dem anderen Auge ihre Eltern gleich gut zu erkennen? Und erkennen junge Tauben ihre Eltern überhaupt?

Um diese Fragestellungen zu untersuchen wurde mit einer sogenannten multiple choice Arena gearbeitet (siehe Abb. 1). Diese umfasst eine Größe von 180cm x 180cm und konnte durch eine großzügige Spende von JUWIRA für dieses Projekt angeschafft werden. Die Ecken der Arena sind wahlweise mit Plexiglas oder Draht abtrennbar, so dass in jede der Ecken ein Tier gesetzt werden konnte. Wenn die Jungtiere das Experiment das erste Mal im Alter von 25 Tagen durchliefen, wurde in einer der vier Ecken der Vater und in eine andere die Mutter gesetzt. In die beiden verbleibenden Ecken wurden jeweils eine Alttäubin und ein Alttäuber aus derselben Schlaggemeinschaft gesetzt. Das Jungtier wurde in der Mitte der Arena platziert und für 15 Minuten wurde beobachtet, für welche der Tauben in den Ecken es sich am meisten interessierte und annäherte. Das Experiment wurde an drei aufeinanderfolgenden Tage durchgeführt. Am ersten Tag unter binokularen Sichtbedingungen, am zweiten und dritten Tag unter monokularen Sichtbedingungen, um die Fragestellung zu klären, ob Lateralisation einen Einfluss auf das Wahlverhalten hat.


Abb. 1 Multiple choice Arena am Wissenschaftlichen Geflügelhof

Zum jetzigen Zeitpunkt liegen zu diesem Teilexperiment schon erste vorläufige Ergebnisse vor. Es zeichnet sich ab, dass sich Jungtiere der Rasse Texaner und der Rasse Brieftaube länger bei ihren Eltern aufhielten, als bei den anderen präsentierten Tieren, wenn sie diese binokular (mit beiden Augen) sahen. Dies kann dahingehend gedeutet werden, dass diese Jungtiere ihre Eltern erkennen und sich ihnen annähern, weil sie u.a. mit der elterlichen Fürsorge verknüpfen. Dieses Verhalten konnte jedoch nicht bei den Altorientalischen Mövchen gefunden werden, sie zeigten keine Präferenz für ihre eigenen Eltern (Abb. 2). Unter monokularen Sichtbedingungen (mit einem Auge) konnte gezeigt werden, dass die Jungtiere der Rasse Texaner ihre Eltern weiterhin erkennen, wenn sie dafür das rechte Auge benutzen können (Abb. 3). Diese Leistung kann nicht mehr erbracht werden, wenn die Jungtiere nur noch das linke Auge benutzen (Abb. 4). Interessanterweise zeigt sich dieses Verhalten auch bei den Jungtieren der Rasse Brieftaube, jedoch in umgekehrter Weise. Mit dem linken Auge sehend erkannten die jungen Brieftauben ihre Eltern (Abb. 4). Nur mit dem rechten Auge sehend zeigten sie dieses Verhalten nicht mehr (Abb. 3). Wie schon unter den binokularen Sichtbedingungen, zeigten die Jungtiere der Rasse Altorientalischen Mövchen auch unter monokularen Bedingungen keine Präferenz für ihre Elterntiere.


Abb. 2 Binokulare Sichtbedingung   Abb. 3 Monokular- Rechtes Auge   Abb. 4 Monokular-Linkes Auge

Bei Jungtieren, die von Zieheltern einer anderen Rasse aufgezogen wurden, zeigte sich keine Annäherung an diese (Abb. 5). Sie besuchten alle vier in den Ecken präsentierten Tauben gleich häufig. Möglicherweise ist es den Jungtieren nicht möglich, ihre Eltern von anderen Tieren zu unterschieden, wenn diese die Zieheltern und nicht die leiblichen Eltern sind und somit einer anderen Rasse angehören.


Abb. 5 Binokulare Sichtbedingung

Weiterhin werden spannende Ergebnisse von den Untersuchungen zur Auflösung der Eltern-Kind-Beziehung im Alter von 35 Tagen erwartet, sowie von den Experimenten zur sozialen Präferenz, im Alter von 3 Monaten, und zur sexuellen Präferenz im Alter von 6 Monaten.
Auch konnte im Jahre 2011 ein weiterer Teilaspekt altersabhängiger Verhaltensweisen an Tauben untersucht werden. Im Jahr 2009 wurde bereits gemeinsam mit der Universität der Provinz Saskatchewan in Kanada ein Forschungsprojekt mit dem Schwerpunkt der Orientierungsleistung bei verschiedenen Taubenrassen im Hinblick auf das Alter und der Arbeitsteilung im Gehirn begonnen. Zu diesem Zeitpunkt wurden nur Tiere der Rasse Brieftaube untersucht. Das Projekt beinhaltet zwei Forschungsansätze. Zum einen sollte die Lateralisation, d.h. die Arbeitsteilung im Gehirn, zum anderen die Neurobiologie des Alterns bei Tauben untersucht werden. Um die Neurobiologie des Alterns zu untersuchen, wurde mit drei verschiedenen Altersgruppen gearbeitet: mit Jungtieren im Alter zwischen 30 und 60 Tagen, mit 3 bis 5-jährigen Tieren, und alten Tiere, die mindestens 9 Jahre alt waren. Um den Effekt der Lateralisation genauer untersuchen zu können, wurde den Tauben, wie in dem oben beschriebenen Experiment, bei den verschiedenen Tests das rechte und danach das linke Auge abdeckt. In dem Orientierungsexperiment ging es darum, die Taube in einer experimentellen Situation, hier eine rechteckige Experimentalarena (1m x 2m), zu beobachten. Dabei bekommt das Tier in einer der vier Ecken des Rechtecks eine Futterbelohnung. In jeder der vier Ecken steht ein andersfarbiges Symbol als Orientierungsmerkmal zur Verfügung, so dass die Taube lernte, eine bestimmte Ecke mit einem Symbol und einer Belohnung zu verknüpfen (Abb. 6)


Abb. 6 ein junges Altorientlisches Mövchen wählt die „richtige“ Ecke und wird mit Futter belohnt

Sobald die Taube diesen Zusammenhang gelernt hatte, wurden verschiedene Tests mit ihr durchgeführt. Dabei wurde beobachtet, wie die Taube mit Veränderungen des Experimentalaufbaus umging, d.h. wenn zum Beispiel die Position der Symbole verändert, oder Symbole teilweise oder ganz entfernt wurden.
Neben der Rasse Brieftaube wurden die Experimente nun mit den beiden Rassen Altorientalisches Mövchen und Texaner durchgeführt. Auch hier wurden verschiedene Altersgruppen untersucht, jedoch konnte keine Gruppe der alten Tiere ab 9 Jahren untersucht werden, da keine genügend große Stichprobe vorlag. So wurde pro Rasse eine Gruppe von Jungtieren (30 bis 60 Tage) und Tiere mittleren Alters (3 bis 5 Jahre) untersucht. Von Interesse ist die Orientierungsleistung vor allem vor dem Hintergrund des Rassenunterschieds. Brieftauben wurden und werden aktiv auf eine gute Orientierungsleistung gezüchtet; Mövchen wurden früher ebenfalls als Botentauben eingesetzt, heute ist dies jedoch kein Zuchtziel mehr. Eine Sonderstellung nimmt hierbei der Texaner ein, welcher ausschließlich für die Fleischproduktion gezüchtet wurde. Inwieweit sich Unterschiede zwischen den einzelnen Rassen und Altersgruppen abzeichnen, bleibt spannend.
Was sich allerdings schon jetzt, vor der endgültigen Auswertung aller Experimente abzeichnet, ist, dass Taube nicht gleich Taube ist. Rasseunterschiede haben die Tiere nicht nur äußerlich verändert, sondern lassen sich auch in deren Verhaltensweisen wiederfinden.

Dipl. Biol. Mareike Fellmin